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Christoph U. Schminck-Gustavus: Feuerrauch

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2017-02-12 2017-04-24 12.02.2017

Im griechischen Bergdorf Lyngiádes sind auf der Gedenktafel für die am 3. Oktober 1943 Ermordeten ein noch ungetauftes Kind der Familie Tsiríkis mit 2 Monaten als jüngstes und Theódoros Lóllis mit 100 Jahren als ältestes Opfer verzeichnet. Es war Sonntagnachmittag, als die Wehrmacht den Ort einschloss, die Bewohner aus ihren Häusern trieb, die Männer von den Frauen und Kindern trennte, dann die Männer erschoss und die Frauen und Kinder in Keller zwang, um auch sie – eine der Frauen erst nach Vergewaltigung – dort niederzuschießen und die Häuser abzufackeln. Zwei Tage zuvor hatte sich Oberstleutnant Salminger, Günstling des „Führers“, nach einem feuchtfröhlichen Gelage in Joánnina nachts gegen alle Warnungen ohne Geleitschutz von seinem Fahrer zu seinem Einsatzort zurück befördern lassen, war mit seinem Horch-Geländewagen in eine Straßensperre gekracht und von Partisanen erschossen worden. Als Vergeltungsaktion befahl daraufhin der kommandierende General Lanz das schonungslose Erschießen aller Einwohner und Niederbrennen aller Dörfer „in 20 km Umkreis der Mordstelle“. Anders als im benachbarten Stroúni, wo dieser Befehl mit Rücksicht auf die Jungvieh- und Schafbestände nicht mit bestialischer Grausamkeit durchgezogen wurde, gab es in Lyngiádes nach Plünderung der Häuser kein Erbarmen. Dennoch hatten wie durch ein Wunder einige Wenige überlebt, darunter der 14-jährige Charílaos Lioúris, der vor dem Tod dadurch bewahrt blieb, dass die Kugel nicht ihn, sondern das Kind auf seinem Arm traf und er von Getöteten zugedeckt wurde. „Also, schreib du alles auf, damit es nicht in Vergessenheit gerät“, beschied er als nun 60-Jähriger den aus Bremen Angereisten. Christoph U. Schminck-Gustavus, inzwischen pensionierter Professor für Rechts- und Sozialgeschichte, ist alles andere als ein akademisch-nüchtern insistierender Befrager. Behutsam und einfühlsam, soweit ein Einfühlen in das Erlittene und die daraus erwachsene Lebenseinstellung überhaupt möglich ist, nimmt er es nach umfänglichen Recherchen auf sich, die noch auskunftsfähigen Zeitzeugen aufzusuchen – in Lyngiádes, Karyés, Joánnina, Athen-Áno Lióssia, Eleusís. Durch die Erlebnisberichte erhält das geschichtlich Dokumentierte eine Unmittelbarkeit, die ergriffen macht. Auf einem anderen Blatt steht, dass auch Legenden zu entschlüsseln waren. Angeblich seien Sarakatsánen, in den Bergen oberhalb von Lyngiádes lebende Hirten, zum Auslöser dieser Katastrophe geworden, weil sie durch einen Hochzeitsumzug und das dabei übliche In-die-Luft-Schießen die Wehrmacht provoziert hätten. Von ganz anderer Brisanz ist allerdings, wie lange und wie erfolgreich diese schwärende Erblast im Land der Täter ausgeblendet werden konnte. Um den geschichtlichen Rückgriff verständlich zu machen, beruft sich Schminck-Gustavus auf Karl Jaspers, aus dessen Sicht die Deutschen nach dem Krieg erst einmal mit dem eigenen Leid und der eigenen Not fertig und nicht mit Schuld und Reue beladen werden wollten. Doch bald schon habe sich ein Schleier des Vergessens über die Untaten gebreitet. Als Fernwirkung der NS-Herrenmenschenpropaganda habe sich für die meisten Täter die Frage nach Reue niemals gestellt, selbst bei religiös gestimmten Menschen nicht. Was jedoch über ein Geraderücken getrübter Geschichtswahrnehmung hinaus zu diesem Buch und nach der griechischen Ausgabe im Verlag Isnafi, Joánnina 2011, zur Veröffentlichung endlich nun auch im Deutschen geführt hat, ist das Folgende: Es habe von bundesdeutscher Justiz durchaus Ermittlungen wegen Verletzung des Völkerrechts gegeben. Aber: „Die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht München I hat mit Einstellungsverfügung vom 18. September 1972 Lanz und andere an Kriegsverbrechen Beteiligte außer Verfolgung gesetzt. Bei der Lektüre dieser Verfügung fragt man sich, ob man sich vielleicht verlesen hat, oder ob damals in den Amtsstuben der Münchener Staatsanwaltschaft Gebirgsjäger aus Mittenwald gesessen haben. Die Vernichtung von Lyngiádes wird beispielsweise als »eine unvermeidbare und damit notwendige Folge des Land- oder Luftkrieges« bezeichnet… Hiernach war auch ein Massaker an der Zivilbevölkerung keine verfolgbare Straftat“ – soweit Christoph U. Schminck-Gustavus. Angesichts dieser justiziellen Komplizenschaft sei den Opfern nur die Hoffnung auf eine neue Generation von Juristen geblieben. Als einer deren Sachwalter macht der Autor auch mit diesem seinem jüngsten Buch geltend, dass die in Zusammenhang mit Lyngiádes, Oradour und wie die Märtyrerorte noch alle heißen zur Blindekuh degradierte Göttin der Gerechtigkeit endlich wieder in den ihr gebührenden Rang eingesetzt gehört.

Christoph U. Schminck-Gustavus,
Feuerrauch. Die Vernichtung des griechischen Dorfes Lyngiades am 3. Oktober 1943.
Verlag J. H. W. Dietz, Bonn 2013,
336 S., ISBN 978-3-8012-0444-0

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